29. April 2020

Das Virus kennt keine Grenzen

Stefano Bernasconi ist Grenzgänger: er wohnt in Como und arbeitet als Polier in Lugano, beim Tessiner Bauunternehmen Ticonstructa SA. Nach dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie hat der Bundesrat am 13. März mit einer Verordnung die Schliessung eines Grossteils der Betriebe und Geschäftslokale in der ganzen Schweiz befohlen. Bauunternehmen waren von dieser Verordnung nicht betroffen und die Baustellen blieben vorerst offen. Die Einreise von Personen aus Italien wurde grundsätzlich verboten; Grenzgänger konnten jedoch weiterhin ein- und ausreisen, wenn sie den Nachweis erbringen konnten, dass sie arbeitshalber unterwegs waren.

Am 17. März wacht Silvia Bernasconi, Stefanos Ehefrau, mit starkem Fieber auf. Sie wird zudem von einem lästigen Husten geplagt. Dem Rat des Hausarztes folgend unterzieht sie sich dem Coronavirus-Test. Das Ergebnis wird frühestens am 20. März erwartet. Herr Bernasconi ruft gleich Carlo Bianchi, den Geschäftsführer der Ticonstructa SA an. Er teilt ihm mit, aufgrund der in Italien geltenden Vorschriften müsse er sich vorsichtshalber der Selbstquarantäne unterziehen, bis das Testergebnis vorliegt. Sollte der Test die Corona-Infektion bei seiner Frau bestätigen, dürfe er nicht mehr in die Schweiz reisen und müsse zuhause bleiben. Ist das Testergebnis negativ, könne er hingegen seine Arbeitstätigkeit wieder normal aufnehmen.

Herr Bianchi fordert seinen Angestellten dazu auf, unverzüglich nach Lugano zu reisen und mindestens so lange in der Schweiz zu bleiben, bis das Testergebnis bekannt wird. Sollte es positiv sein, habe der Polier in der Schweiz zu bleiben, damit er trotz der Einreisesperre weiterarbeiten könne. Ticonstructa SA stelle ihm hierfür in Lugano eine kleine Wohnung zur freien Verfügung. Wenn sich Stefano Bernasconi weigere, der Aufforderung des Arbeitgebers Folge zu leisten, werde ihn Herr Bianchi bereits am Folgetag wegen unentschuldigtem Nichterscheinen am Arbeitsplatz entlassen.

Herr Bernasconi ist verzweifelt. Was soll er tun? Kann er sich dem Arbeitgeber widersetzen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, seine Stelle zu verlieren?

Kein unbegrenztes Weisungsrecht des Arbeitgebers

Art. 321d OR verpflichtet den Arbeitnehmer, die Anordnungen und Weisungen des Arbeitgebers über die Ausführung der Arbeit und das Verhalten in Betrieb oder Haushalt nach Treu und Glauben zu befolgen. Tut er es nicht, setzt er sich gegebenenfalls der Gefahr einer Abmahnung oder, bei wiederholter oder schwerwiegender Missachtung, der Entlassung aus.

Das Weisungsrecht des Arbeitgebers ist indessen nicht unbegrenzt; es muss dort zurückweichen, wo es zur Verletzung zwingender Vorschriften führen würde. Desgleichen insbesondere, wenn durch die Anordnungen des Arbeitgebers die Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers auf unzulässige Weise eingeschränkt werden. Weisungen, die das Verhalten des Arbeitnehmers im privaten Haushalt betreffen, sind nur dann legitim, wenn sie sich durch ein besonderes betriebsgeschäftliches Bedürfnis rechtfertigen lassen.

Mit seinen Anordnungen hat der Geschäftsführer der Ticonstructa SA die Grenzen des nach Art. 321d OR zulässigen Weisungsrechts klar überschritten.

Durch seine Aufforderung, trotz der drohenden Infektionsgefahr die Wohnung zu verlassen und in die Schweiz zu reisen stiftet Herr Bianchi seinen Angestellten zur Verletzung der notrechtlich erlassenen Vorschriften an. Die Erzwingung des (wenn auch unentgeltlichen) Bezugs einer Wohnung in der Schweiz stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Privatleben und die Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers dar, der durch kein legitimes Betriebsinteresse gestützt ist, im Gegenteil: Herr Bianchi zielt damit einzig und allein darauf, einen potentiell Corona-infizierten Mitarbeiter weiter im Betrieb beschäftigen zu können. Dadurch verletzt er seine gesetzliche Pflicht, die Gesundheit seiner Angestellten zu schützen (Art. 328 OR, Art. 10c der COVID-19-Verordnung 2).

 

Fazit

Die Weisungen des Geschäftsführers der Ticonstructa SA sind widerrechtlich und Herr Bernasconi ist nicht dazu verpflichtet, sie zu befolgen. Eine allfällige, wegen Nichtbefolgung der Weisungen oder Arbeitsverweigerung ausgesprochene Kündigung wäre missbräuchlich.

 

Text: Andrea Lenzin, Rechtsanwalt

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